Vorlesungs- und Lehrendenverzeichnis

SoSe 2021

Fortschrittsskepsis bei jüdischen Intellektuellen der Moderne

Christoph Schulte

PULS

„Daß es ‚so weiter‘ geht, ist die Katastrophe“, formuliert Walter Benjamin 1937. Die fortschreitende Ausbeutung von Mensch und Natur in modernen Industriegesellschaften führt nicht etwa zum versprochenen Wohlstand für alle und zu einer Verbesserung der Lebensverhältnisse, sondern ins Unheil. Jeder Fortschritt läßt Zerstörungen zurück, Fortschrittsgläubigkeit ist eine Illusion politischer Ideologien von links über liberal bis rechtsaußen. Und Günther Anders beklagt 1956 die Apokalypse-Blindheit der Menschheit, die nicht begreift, dass die Menschen erstmals in der Geschichte sich selbst und den Planeten mit Mitteln des technischen Fortschritts und seiner Maschinenwelt zerstören können. Benjamins und Anders‘ Warnungen haben in Zeiten der Klimakatastrophe größte Aktualität. Aber diese beiden Philosophen sind nicht die ersten jüdischen Intellektuellen, die dem modernen Fortschrittsglauben skeptisch gegenüberstehen. Schon Mendelssohn hatte den moralischen Fortschrittsoptimismus von Lessing kritisiert, Heine die christliche Geschichtsphilosophie von Hegel. Das Grundmuster der modernen, fortschrittsorientierten Geschichtsphilosophie, in der mit weltgeschichtlicher Perspektive stets das Judentum vom Christentum ‚überwunden‘ wird, wird von Nachman Krochmal, Samuel Hirsch und Franz Rosenzweig in Frage gestellt. Karl Löwith analysiert die moderne Geschichtsphilosophie von Voltaire, Lessing Kant, Hegel und Marx als ebenso blindes wie illusionäres säkulares Erbe christlicher Geschichtstheologie Theodor Lessing sieht in der fortschrittsgläubigen Geschichtsauffassung eine „Sinngebung des Sinnlosen“, durch welche die Sinnlosigkeit und Zufälligkeit von Krieg, Unterdrückung, Gewalt und Tod nachträglich rationalisiert wird. Horkheimer und Adorno erinnern in der „Dialektik der Aufklärung“ daran, dass Aufklärung nicht einfach und unkritisch eine fortschrittliche, vernünftigere Epoche der Menschheitsgeschichte einläutete, sondern auf ihrer Schattenseite und mittels der Instrumentalisierung der Vernunft im Kapitalismus auch eine gewaltförmige Deformation, Unterdrückung und Ausbeutung von Körper und Natur mit sich bringt.
Das MA-Seminar wird Schlüsseltexte zur Fortschrittsskepsis der genannten Autoren studieren und kritisch analysieren. Die Texte werden auf Moodle zur Verfügung gestellt.

Literatur

Reinhart Koselleck: Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt/M. 1979 Karl Löwith: Weltgeschichte und Heilsgeschehen. Die theologischen Voraussetzungen der Geschichtsphilosophie, Stuttgart 1953 Odo Marquard: Schwierigkeiten mit der Geschichtsphilosophie, Frankfurt/M. 1973 Christph Schulte: „Geschichtsphilosophie ist Heteronomiephilosophie”, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie, 38 (1990) Heft 9, S. 809-817.

Leistungspunkterwerb

Regelmäßige und kontinuierliche Lektüre, Teilnahme und Mitwirkung bei den wöchentlichen Sitzungen über Zoom, Anlegen eines Arbeitstagebuchs.

Da voraussichtlich auch im SoSe 2021 keine Präsenz-Lehrveranstaltungen auf dem Campus stattfinden können, und weil wir auf diesem Weg auch KommilitonInnen, welche im Home Office arbeiten, Kinder betreuen, zu einer Risikogruppe gehören, leicht erkrankt oder in Quarantäne sind, die Teilnahme ermöglichen können, wurde dieses MA-Seminar als online-Lehrveranstaltung konzipiert und strukturiert.

Ich werde Ihnen im Wochenabstand die Quellentexte, teilweise auch die Fachliteratur per Email vorab in digitaler Kopie schicken. Sie müssen diese Texte, falls Sie sie nicht in einer Druckfassung haben, am besten ausdrucken, sie lesen und durcharbeiten. Dann legen Sie sich, falls Sie das nicht bereits tun, ein elektronisches Arbeitsjournal oder –Tagebuch an, indem sie kurz auf 1-3 Seiten den gelesenen Text zusammenfassen, seine Hauptthesen und –Argumente auflisten und Ihre persönlichen Eindrücke und Einwände notieren. Diese Auszüge aus Ihrem elektronischen Arbeitsjournal schicken Sie mir per Email bis zum Vortag der wöchentlichen Videokonferenz zu.

Einmal in der Woche zur Seminarzeit am Mi um 10:15 werden wir uns zu einer Videokonferenz über Zoom zusammenschalten und Ihre Auszüge und Eindrücke von den gelesenen Quellentexten vortragen, austauschen und diskutieren. Ich werde Ihnen jeweils am Vortag den link für das Zoom-Meeting per Email mitteilen.

Die generelle Leistungsanforderung in diesem MA-Seminar ist es, mir und den anderen Seminar-Teilnehmern wöchentlich einen Eintrag aus dem elektronischen Arbeitsjournal vorzulegen. Nach Absprache können auch Protokolle, schriftliche Referate Essays oder Modularbeiten zum Seminarthema angefertigt werden.

Studiengänge und Module

LPSWSbenotet
MT Jüdische Studien 2012
  2021 
Lehrveranstaltung, Lehren des Judentums mit dem Schwerpunkt Philosophie und Geistesgeschichte
3
2
nein
  2022 
Lehrveranstaltung, Lehren des Judentums mit dem Schwerpunkt Philosophie und Geistesgeschichte
3
2
nein
MT Jüdische Studien 2019
  296931 
Seminar (Seminar), JUD_MA_004 Jüdische Religion und Philosophie
5
2
nein
  296932 
Seminar (Seminar), JUD_MA_004 Jüdische Religion und Philosophie
5
2
nein
MT Jüdische Theologie 2020
  297102 
Übung, JTH_MA_010: Jüdische Religionsphilosophie
5
2
nein
  297101 
Oberseminar, JTH_MA_010: Jüdische Religionsphilosophie
5
2
nein
MT Philosophie 2010
  350 
Seminar, Forschungsmodul Politische Philosophie und philosophische Anthropologie 1
4
2
nein
  351 
Seminar, Forschungsmodul Politische Philosophie und philosophische Anthropologie 1
4
2
nein
  360 
Seminar, Forschungsmodul Politische Philosophie und philosophische Anthropologie 2
4
2
nein
  361 
Seminar, Forschungsmodul Politische Philosophie und philosophische Anthropologie 2
4
2
nein
MT Philosophie 2019
  212801 
Seminar (Seminar), PHI_MA_012 Forschungsmodul Philosophische Anthropologie und Philosophie des Geistes 1
4
2
nein
  212802 
Seminar (Seminar), PHI_MA_012 Forschungsmodul Philosophische Anthropologie und Philosophie des Geistes 1
4
2
nein
  212811 
Seminar (Seminar), PHI_MA_013 Forschungsmodul Philosophische Anthropologie und Philosophie des Geistes 2
4
2
nein
  212812 
Seminar (Seminar), PHI_MA_013 Forschungsmodul Philosophische Anthropologie und Philosophie des Geistes 2
4
2
nein
Studium+ 2008
  4301 
Veranstaltung (4301-10), Veranstaltungen 3 LP
3
2
ja/nein
Studium+ 2009
  10202 
Veranstaltung, Aufbaumodul Kultur, Geschichte, Interkulturalität
3
2
ja/nein
  10203 
Veranstaltung, Aufbaumodul Kultur, Geschichte, Interkulturalität
3
2
ja/nein
  10222 
Veranstaltung, Aufbaumodul Kultur, Geschichte, Interkulturalität
3
2
ja/nein
  10223 
Veranstaltung, Aufbaumodul Kultur, Geschichte, Interkulturalität
3
2
ja/nein
Studium+ 2013
  200111 
Variante I: Vorlesung oder Seminar, Ba_SK_P-1 Literaturen, Sprachen, Religionen und Kulturen
3
2
nein
  200112 
Variante I: Seminar mit Klausur oder Kurzessay oder Referat/Handout, Ba_SK_P-1 Literaturen, Sprachen, Religionen und Kulturen
3
2
ja

Kontakt

Universität Potsdam
Philosophische Fakultät
Am Neuen Palais 10
14469 Potsdam

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